Wie ein Frachtschiff, das zu groß ist, um weiterzukommen. So könnte ein Vergleich mit Amazon aktuell aussehen. Mit mehr als 1,5 Millionen Mitarbeiter:innen hat sich das einstige Garagen-Startup nicht nur in eines der größten Unternehmen weltweit verwandelt, sondern auch in einen riesigen bürokratischen Apparat. Unzählige Meetings, zahlreiche Managementebenen und langwierige Entscheidungsprozesse führen dazu, dass sich viele Herausforderungen und Probleme nur sehr langsam (oder schlimmstenfalls überhaupt nicht) lösen lassen. Die Weiterentwicklung stagniert.
Das hat auch Amazons CEO Andy Jassy erkannt und tritt dieser Entwicklung jetzt entschieden entgegen. In einem Brief an die Belegschaft kündigte Jassy deutliche Maßnahmen an, um das Unternehmen wieder agiler zu machen und die vielfach beschworene „Day-One-Kultur“ wieder stärker in den Fokus zu rücken: „Der wichtigste Grund, warum ich noch hier bin, ist unsere Kultur,“ schreibt Jassy in dem Memorandum an die Belegschaft. An dem Erhalt dieser Kultur müsse man jedoch arbeiten.
Heißt im Klartext: Stellenabbau, um Management- und Hierarchieebenen zu reduzieren, eine stärkere Fokussierung auf das Engagement einzelner Mitarbeitenden und nicht zuletzt die Rückkehr ins Office an fünf Tagen die Woche. Letzteres soll ab Januar 2025 gelten, „um einen reibungslosen Übergang“ zu gewährleisten: „Wir haben Verständnis dafür, dass einige unserer Mitarbeiter:innen ihr Privatleben so organisiert haben, dass eine Rückkehr ins Büro an fünf Tagen pro Woche einige Anpassungen erfordert“, so Jassy. Das Verhältnis von Fachkräften zu Managern soll durch den Abbau von Stellen im mittleren Management bis März 2025 um 15 Prozent erhöht werden. Eine „Bürokratie-Mailbox“ soll Mitarbeitern Gelegenheit geben, ineffektive Prozesse zu melden.
Mit diesen Maßnahmen will Jassy Amazon so wieder auf Kurs bringen – schnell, agil und innovativ: „Wir wollen wie das größte Startup der Welt arbeiten. Dazu gehören eine Leidenschaft für neue Entwicklungen zum Wohl unserer Kunden, ein starkes Gefühl von Dringlichkeit…, Eigenverantwortung, schnelle Entscheidungsfindung, Kampfgeist und Bescheidenheit, eine eng vernetzte Zusammenarbeit…und ein Verantwortungsgefühl füreinander.“
Was bedeutet das für den Seller-Support?
Für die viele Amazon-Mitarbeiter:innen sind Jassys Ankündigungen sicherlich eine Kröte, die es erst mal zu schlucken gilt. Fraglich, ob die Mitarbeitermotivation, die ja Teil der Day-One-Kultur ist, auf diese Weise gesteigert wird.
Für Amazon-Seller könnte diese Transformation jedoch Vorteile bringen: Der oft als ineffizient kritisierte Support ist geprägt von Mitarbeiter:innen, die nicht ausreichend qualifiziert sind oder sich nicht zuständig fühlen, zu vielen verschiedenen involvierten Teams, die nicht (gut) miteinander kommunizieren sowie extrem langen Entscheidungswegen. Die Ankündigung, den Mitarbeiter:innen auf den unteren Ebenen wieder mehr Entscheidungsbefugnisse zu erteilen, könnte den Seller-Support verbessern. Gleichzeitig wird Amazon auch weiterhin auf seine kostenpflichtigen Strategic Account Services (SAS) setzen. Auch wenn SAS als ganzheitlicher Premium-Support für Seller verkauft wird, liegt der Schwerpunkt auf Marketing und Sales. Operative Anliegen und Account Health-Probleme stehen nicht im Fokus. SAS bietet daher für die meisten Seller-Probleme keine echte Lösung.
Um der andauernden Kritik an einem unzureichenden Support zu begegnen, wird in den USA derzeit übrigens ein neuer „Specialist Seller Support“ getestet – also eine weitere Supportstufe, die komplexere Probleme lösen soll, die nicht durch den regulären Seller Support zu lösen sind. Auch wenn die ersten Rückmeldungen positiv sind, bleibt unklar, wann dieser Service auch international verfügbar sein wird. Und: Ist ein weiterer Service, der wiederum neu aufgebaut werden muss und zusätzlich zu Angeboten wie dem bestehenden Seller Support und SAS eingeführt wird, wirklich die Lösung?
Wird es Amazon gelingen, wieder agiler werden?
Jassys Maßnahmen zeigen, dass Amazon erkannt hat, wie wichtig es ist, wieder entscheidungsfähiger zu werden und agiler zu handeln, um sich gegen die immer stärker werdende Konkurrenz behaupten zu können. Den Konzern wieder mehr auf die einstige Day-One-Kultur auszurichten, ist zweifellos richtig. Ob dies durch – sicherlich wenig beliebte – Maßnahmen wie dem Abbau von Stellen und der Rückkehr zur 5-Tage-Woche gelingen wird, bleibt fraglich.
Und: Während auf der einen Seite Prozesse verschlankt und Managementebenen reduziert werden sollen, entstehen auf der anderen Seite immer neue Prozesse und Services, wie zuletzt der Specialist Seller Support, der ja auch erst mal aufgebaut und strukturiert sein will. Macht es in Hinblick auf die Agilität nicht vielleicht mehr Sinn, bestehende Services zu optimieren, anstatt immer neue on top zu setzen?
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