Der Kunde ist König…
…wie es so schön heißt. Customer Obsession (zu Deutsch Kundenobsession oder Kundenorientierung) ist Amazons oberstes Führungsprinzip. Die Kombination aus riesiger Produktauswahl, schneller Lieferung, reibungslosen Bestellprozessen sowie kulanten Rückgaberegelungen machen den Amazon Marktplatz seit jeher zu einem Königreich für Kund:innen, das inzwischen mehr als 30 Millionen Menschen weltweit überzeugt. Dieses Kundenkönigreich wäre jedoch ohne zwei weitere zentrale Gruppen nicht möglich: Mitarbeiter und Marktplatzhändler. Und diese scheint Amazon nicht ganz so wichtig zu nehmen wie seine Kunden – zumindest macht es mitunter den Eindruck.
Der Mitarbeiter ist König…
…oder?
„Love your employees. Customers will follow“, sagt Simon Sinek und erklärt, weshalb glückliche Mitarbeiter für die Kundenzufriedenheit essenziell sind. Das weiß Amazon auch. Zumindest in der Theorie, denn der Konzern strebt an, nicht nur das kundenorientierteste Unternehmen, sondern auch der beste Arbeitgeber der Welt zu werden: „Strive to be Earth’s Best Employer“, lautet Führungsprinzip Nummer 15.
Bei weltweit 1,5 Millionen Beschäftigten ist das natürlich keine leichte Aufgabe, denn eine positive Unternehmenskultur erfordert mehr als gut klingende Prinzipien. Sie muss im Alltag gelebt werden. Und das scheint mit zunehmender Größe immer schwieriger geworden zu sein. Zuletzt musste die Belegschaft Entscheidungen wie die Rücknahme flexibler Home-Office-Regelungen oder die Abschaffung der Workation-Möglichkeit schlucken. Hinzu kommen Stellenstreichungen im mittleren Management. CEO Andy Jassy betont, dass er den Mega-Konzern auf diese Weise wieder agiler machen und Amazons ursprüngliche „Day-One-Kultur“ stärken will. Aber ob derartige Maßnahmen dazu führen, dass Dinge wie Loyalität, Motivation, Eigenverantwortung und Risikobereitschaft gestärkt werden? Sinek zufolge ist es wichtig, dass Mitarbeiter sich psychologisch sicher fühlen, um ihr Bestes geben zu können. Stellenabbau und die Rücknahme flexibler Arbeitsregelungen dürften eher das Gegenteil bewirken.
Bei Amazon kommt aber noch eine weitere wichtige Stakeholder-Gruppe hinzu: Marktplatzhändler. Und diese sind für die Kundenzufriedenheit mindestens so wichtig wie die Amazonians (wie Amazon seine Mitarbeiter gerne nennt).
Der Seller ist König…
…hmmm.
Oder im Sinne von Simon Sinek gesprochen:
„Love your employees. Love your sellers. Customers will follow.“
Drittanbieter generieren mittlerweile mehr als 60 % des Produktumsatzes auf Amazon.com. Viele Händler erleben dabei leider regelmäßig eine Achterbahnfahrt: Gebühren steigen, Algorithmen ändern sich plötzlich, Produkte verschwinden ohne Vorwarnung aus dem Ranking, Accounts werden ohne ersichtlichen Grund gesperrt und der Support lässt zu wünschen übrig. All das schmälert Umsätze, erschwert langfristige Planungen und lässt die Seller sicherlich vieles fühlen – nur nicht, wie ein König behandelt zu werden.
Am Beispiel des Seller Supports wird deutlich, warum Amazon gut daran täte, nicht nur seine Kunden in den Fokus zu stellen, sondern sämtliche Beteiligten seines Ökosystems. Denn das eine hängt untrennbar mit dem anderen zusammen: Wenn Support-Teams schlecht geschult, überlastet oder mit unzureichenden Tools und Berechtigungen ausgestattet sind, leidet der gesamte Marktplatz. Die Support-Mitarbeiter fühlen sich unsicher und gestresst, was dazu führt, dass Seller keine – oder keine klaren – Antworten auf ihre Anfragen erhalten. Sie warten oft lange (und manchmal völlig umsonst) auf konkrete Lösungen. Das führt nicht nur zu Frustration, sondern wirkt sich auch direkt auf Sichtbarkeit, Verfügbarkeit, Lieferzeiten usw. aus. Und darunter leiden letztlich auch die Kunden. Diese geben dann womöglich entsprechende Rezensionen ab, die sich wiederum negativ auf die Seller-Performance auswirken.
Eine kleine Anekdote aus dem Alltag: Allzu häufig plaudern Amazon-Mitarbeiter ja nicht aus dem Nähkästchen. Aber ich war letztens in einem Kunden-Call, an dem auch eine Amazon-Mitarbeiterin aus dem Ads-Team teilnahm. Nicht nur konnte sie bislang remote arbeiten und muss sich nun seit Januar morgens bemühen, einen Schreibtisch im Büro vor Ort zu ergattern. Ihr wurde aus Versehen der Zugriff auf die Daten dieses Kunden entzogen und sie muss diesen Zugriff nun selbst wieder beantragen – ein typischer, bürokratischer Amazon-Bug, wo nach dem Gießkannenprinzip Entscheidungen umgesetzt werden, die oft auch die falschen Personen treffen. Zudem wurden dieser Mitarbeiterin mittlerweile so viele Kunden-Accounts übertragen, dass sie nicht mehr regelmäßig an den 14-tägigen Kunden-Calls teilnehmen kann. Wie soll da ein engagierter Mitarbeiter nicht frustriert sein? Oder sich der Seller wie ein König fühlen?
Wenn sich die Mitarbeiter jedoch ernstgenommen, gut geschult und psychologisch sicher fühlen, können sie den Sellern schneller und besser helfen. Zufriedene Seller sorgen für ein zuverlässiges Marktplatzangebot, wovon wiederum die Kunden direkt profitieren. Glückliche Kunden machen die Seller glücklich – und Amazon auch. Diese Rechnung ist doch eigentlich gar nicht so schwer, oder?
PS Finden Sie diese Informationen hilfreich? Dann melden Sie sich gerne für meinen Newsletter an.