Diese Frage beschäftigt nicht nur Marktanalysten. Seit Amazons Gründung vor 30 Jahren in der Garage von Jeff Bezos schien es für den E-Commerce-Anbieter der ersten Stunde nur „höher, schneller, weiter“ zu geben. Amazons weltweites Wachstum im E-Commerce zusammen mit der Ausweitung des Konzerns auf andere Sparten wie IT-Infrastruktur (Amazon Web Services), Medien und Unterhaltung (Amazon Prime) und nicht zuletzt das Werbegeschäft (Amazon Advertising) haben den einstigen Online-Buchhändler zu einem der größten und einflussreichsten Konzerne weltweit gemacht. In den Jahren 2019, 2020 und 2021 belegte Amazon jeweils unangefochten Platz eins der Rangliste der wertvollsten Brands, die jährlich vom Marktforschungsunternehmen Kantar herausgegeben wird. 2022 rutschte Amazon ab auf Platz drei, 2023 und 2024 schaffte es der Konzern jeweils nur noch auf den vierten Platz der Kantar BrandZ Top 100 Most Valuable Global Brands.
Globale Herausforderungen
Nach Zeiten enormen Wachstums in den Jahren 2019 bis 2021, in denen Online-Shopping-Plattformen wie Amazon nicht zuletzt von der Corona-Pandemie profitierten, haben globale Krisen und die weltweite Inflation die E-Commerce-Branche zuletzt vor neue Herausforderungen gestellt. Zudem hat Amazon mit wachsender Konkurrenz im Online-Handel zu kämpfen – vor allem durch chinesische Anbieter wie Shein, Temu und AliExpress. Auch der zunehmende regulatorische Druck aufgrund von Datenschutzregularien und Bedenken zur Marktdominanz auf regionalen Märkten, wie aktuell in Europa, machen Amazon zu schaffen. Hinzu kommt die rasante Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) und Maschinellem Lernen (ML), die derzeit von den Tech-Riesen Google und Microsoft angeführt wird. Gerade im Bereich Technologieentwicklung hat Amazon mit internen Herausforderungen zu kämpfen: Jason Saltzman von Life Data Technologies zufolge hat Amazon seit Anfang 2023 über 445 Fachkräfte an andere große Technologieunternehmen verloren, während gleichzeitig nur etwa 320 neue Mitarbeiter:innen rekrutiert werden konnten. Die Abwanderung von Talenten, die nicht nur die KI-Entwicklung betrifft, kann Amazons Innovationskraft langfristig beeinträchtigen.
Wachstum auf Kosten von Amazons Leitprinzipien?
Aber nicht nur die Vielzahl an globalen Einflüssen – mit denen ja nicht nur Amazon zu kämpfen hat – machen dem Konzern zu schaffen. Während Amazon sein Geschäftsmodell stetig erweitert, drohen ihm seine Leitprinzipien, allen voran seine Kundenbesessenheit und der vielzitierte „Day-One“-Spirit, abhanden zu kommen. Und gerade diesen Prinzipien wird Amazons unvergleichliche Erfolgsgeschichte oft zugeschrieben.
Quelle: Statista
Vor allem das Werbegeschäft ist zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden. Während Werbung im Jahr 2019 nur etwa 5 % des Gesamtumsatzes ausmachte, waren es 2023 bereits mehr als 7 % (knapp 47 Milliarden US-Dollar). Tendenz steigend. Im ersten Quartal 2024 konnte der Konzern in der Werbesparte mit 11,8 Milliarden US-Dollar ein Umsatzwachstum von 24 % verzeichnen. Insgesamt stieg Amazons Werbeumsatz dem neuesten Jungle Scout Amazon Advertising Report 2024 zufolge (Angabe von Kontaktdaten zum Download erforderlich) seit 2019 um satte 272 %.
Neben Werbeanzeigen und -Videos auf Amazons Streaming-Diensten stammt der Großteil der Werbeeinnahmen von Produkt- und Markenwerbung auf der Amazon-Verkaufsplattform. Für Verbraucher:innen, die auf Amazon nach passenden Produkten suchen, führt dies zu einem veränderten Kauferlebnis. Denn die Ergebnisse ihrer Produktsuchen werden nicht mehr (nur) nach Relevanz angezeigt, sondern danach, welcher Werbetreibende das meiste Geld für eine hohe Platzierung bietet. Profit steht somit über dem Kundenerlebnis. Und das spüren die Kund:innen.
Zudem sind die Kapazitäten für Produkt- und Markenwerbung auf der Online-Plattform endlich. Bereits jetzt machen Werbeanzeigen bis zu 50 % der angezeigten Suchergebnisse auf den ersten Produktseiten aus. Amazon läuft Gefahr, dass seine Produktseiten irgendwann derart mit Werbung überschwemmt sind, dass das Werbe-Wachstum rückläufig sein wird.
Amazons jüngst veröffentlichte Quartalszahlen könnten ein erstes Anzeichen dafür sein: Amazons Werbeeinnahmen sind im Q2 2024 um 20 % gestiegen. Damit wächst Amazons Werbesparte zwar stetig weiter – allerdings langsamer als je zuvor. Zum Vergleich: 2021 verzeichnete die Werbesparte ein Wachstum von 45 % (Achtung: Paywall).
Und auf Seller-Seite?
Amazons Online Marktplatz, der inzwischen fast zwei Millionen Seller verzeichnet (Github Report 2024), ist hinter Amazons eigenem Online-Geschäft seine zweitgrößte Umsatzquelle. Seller Services, inklusive FBA-Gebühren und Provisionen, haben Statista zufolge allein im ersten Quartal 2024 einen Umsatz von 34,6 Milliarden US-Dollar generiert. Damit gehören Marktplatzhändler zu Amazons wichtigster Kundschaft.
Doch von Kundenobsession spüren die Seller wenig. Die Kosten, die sie aufbringen müssen, um ihre Produkte erfolgreich auf Amazon zu vertreiben, steigen stetig. Insbesondere in den Bereichen Werbung und Versand. Zudem klagen die Seller seit Jahren über mangelnde Kommunikation, Transparenz und Unterstützung.
Warum? Zum einen ist der Seller Support ein Bereich, der für Amazon wenig lukrativ ist und daher nicht auf der Prioritätenliste zu stehen scheint. Zwar wurden auf der letzten Amazon Accelerate viele neue Tools und Programme für Seller vorgestellt, aber es wurde kaum auf das Thema Seller Support / Verkäuferleistung eingegangen. Zum anderen hat Amazon auch im Bereich Seller Support mit hoher Personalfluktuation zu kämpfen. Amazon investiert hier (zu) wenig in die Ausbildung und Förderung von qualifiziertem Personal.
Ein Blick auf Jungle Scouts Report The State of the Amazon Seller 2024 zeigt, dass Amazon gut daran täte, hier anzusetzen und sich nicht nur bei den Endkund:innen auf seine Leitprinzipien zurückzubesinnen, sondern auch bei den Sellern. Denn dem Bericht zufolge planen mehr als die Hälfte der Einzelhändler und KMUs auf dem Amazon-Marktplatz, auf andere E-Commerce-Plattformen zu expandieren. In diesem Seller-Segment hat dies sogar zweithöchste Priorität (auf Platz 1 der Prioritätenliste liegt demnach die Entwicklung neuer Marketing-Taktiken).
Wenn Amazon nicht aktiv dagegen steuert, läuft der Konzern Gefahr, dass ihm seine Seller über kurz oder lang wegbrechen und auf andere Online-Plattformen und Kanäle abwandern.